„Alles hat seine Zeit“ – kaum ein anderer alttestamentarischer biblischer Text enthält so viel Wahrheit und hat so sehr Eingang in unsere Sprachwelt gefunden wie diese Worte des Predigers Salomo. Leider findet diese Weisheit bei mancher Entscheidung der Verwaltung und des Gemeinderats keine Berücksichtigung, und man versucht, Dinge über die Zeit zu retten, die sich selbst überlebt haben. Spätestens dann wird es peinlich. Doch hier die ganze Geschichte im Detail:
Das Bedürfnis nach Versöhnung mit den einstigen Gegnern und Feinden war ein zentrales Thema der Teilnehmer der beiden Weltkriege. Die junge Generation, die verführt durch Indoktrination und Propaganda oder in jugendlicher Verblendetheit dem Ruf zur Mobilmachung folgte, begriff erst Jahre und Jahrzehnte später in vollem Umfang die Folgen ihres Tuns und fand sich dazu bereit, den Kameraden auf der anderen Seite der Front die Hand zu reichen. Im Zentrum der Aussöhnungsbemühungen stand in den fünfziger Jahren zunächst die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland, und eine der ersten Städtepartnerschaften überhaupt war die Verbindung zwischen Karlsruhe und Nancy. Motiviert durch diesen Erfolg fanden sich auch in Weingarten gesellschaftliche Gruppen und Vereine zusammen mit dem Ziel, eine offizielle Liaison mit einer französischen Gemeinde einzugehen. Auch der VdK und die Weingartener FDP unterstützten diese Bemühungen, genannt seien hier nur die Namen Hans und Blanca Langmann, Werner Russel und Eugen Sautter. Die Wahl fiel auf das knapp zwanzig Kilometer von Nancy entfernte, an einer Moselschleife gelegene Liverdun.
Viele erinnern sich noch sehr gut an die Nervosität, Aufgeregtheit und die Emotionen, die mit den ersten Freundschaftsbesuchen verbunden waren. Sogenannte Kriegerwitwen und gestandene Männer, teils mit verstümmelten Gliedmaßen, fielen sich unter Tränen in die Arme, einstige Feindschaft verwandelte sich in herzliche Gastfreundschaft, Französischkurse an der Volkshochschule waren überbelegt und handgeschriebene Briefe lagen auf Küchentischen, um von den wenigen, die damals der französischen Sprache mächtig waren, übersetzt zu werden. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Hoffnung und der Zuversicht. Auch Weingartener Vereine sowie die Freiwillige Feuerwehr pflegten lange Jahre partnerschaftliche Beziehungen zu der idyllisch gelegenen Kleinstadt an der Moselschleife, doch mit der Zeit ließ der Elan nach, möglicherweise auch deshalb, weil Weingarten im Jahre 1984 eine weitere Verbindung mit Olesa de Montserrat einging und das doch eher beschauliche Liverdun nicht mit dem mediterranen Flair der nahe der pulsierenden Metropole Barcelona gelegenen katalanischen Gemeinde mithalten konnte. Zu dieser entwickelten sich – im Gegensatz zu Liverdun – auch familiäre Bande in Form von Partnerschaften und Eheschließungen, und selbstverständlich waren und sind die aus dieser Verbindung hervorgegangenen spanisch-deutschen Familien Garanten für den Weiterbestand der offiziellen Städtepartnerschaft.
So nimmt es nicht wunder, dass die Schultern, die einst die deutsch-französische Freundschaft trugen, mit den Jahren schwächer und weniger wurden, und dass es immer schwerer fiel, die Jugend auf beiden Seiten des Rheins für das Projekt ihrer Vorgängergeneration zu gewinnen. Hinzu kamen mehrere personelle Wechsel an der Spitze und in den politischen Gremien beider Gemeinden. Auch dabei gelang es nicht immer, die jeweiligen Amtsnachfolger von der Wichtigkeit der Pflege partnerschaftlicher Beziehungen zum Nachbarland zu überzeugen.
Der vor Jahresfrist von französischer Seite ausgehende Wunsch, nach langen vergeblichen Versuchen einer Reanimierung der Städtepartnerschaft diese formal zu beenden ist aus Sicht der FDP-Fraktion daher konsequent und verständlich zugleich. Gleichzeitig bedauern die drei Liberalen im Weingartener Gemeinderat die über mehrere Monate hinweg verzögerte Behandlung des offiziellen Schreibens durch die Verwaltung und hätten sich eine sofortige diplomatische Reaktion von Weingartener Seite aus gewünscht. Die Position der FDP-Fraktion lautet daher: „Wir möchten respektvoll mit dem von Bürgermeister Sébastien Dosé übermittelten Wunsch umgehen und eine kleine Delegation von Vertretern des Gemeinderats und der Verwaltung nach Liverdun entsenden. Dort sollten wir uns gegenseitig in die Augen schauen, einander die Hand reichen und als gute Nachbarn weiterleben. Dies wäre ehrlicher als ein krampfhaftes Festhalten an einer in die Jahre gekommenen offiziellen Verbindung, denn – alles hat seine Zeit“.