Die Politik gibt mittlerweile offen zu: Unser Land befindet sich in der schwierigsten wirtschaftlichen Situation seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Doch während die Bundesregierung zusammen mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden über eine konzertierte Aktion zur Krisenbewältigung berät herrscht hierzulande business as usual – man berät über Vereinsförderungsrichtlinien, organisiert Sommerfeste und träumt nach wie vor von einem Außenschwimmbecken oder sogar von einer Öffnung des Walzbachs in der Bahnhofstraße. Über die Auswirkungen steigender Preise und Energiekosten auf Weingartener Familien und auf die Perspektiven für unsere Kommune diskutiert die Redaktion der Neuen Liberalen Zeitung mit Matthias Russel, Bankbetriebswirt und Experte für Baufinanzierungen.
Red.: Guten Morgen Matthias, nähert man sich von außen unserer Gemeinde bestimmen hoch aufragende Kräne das Erscheinungsbild Weingartens. In der Ringstraße werden zwei Mehrfamilienhauskomplexe gleichzeitig realisiert, am Ulmenplatz in der Waldbrücke geht es zur Sache und das Seniorenzentrum auf dem Gelände in der Kanalstraße steht kurz vor seiner Fertigstellung. Ist die Nachfrage nach Wohnraum konstant auf hohem Niveau?
Matthias Russel: Tatsächlich ist der Wunsch nach dem eigenen Zuhause gerade bei jungen Familien nach wie vor ungebrochen. Darüber hinaus bleiben Immobilien ebenfalls für Investoren durchaus interessant. Zunehmende Erschwernisse ergeben sich jedoch bei der Finanzierung. Gemäß den geltenden Richtlinien müssen die Banken für jedes Haushaltsmitglied bestimmte Lebenshaltungspauschalen ansetzen. Diese werden aufaddiert, und erst die Differenz zwischen Nettoeinkommen und der sich ergebenden Summe steht für die Bedienung eines Baukredites zur Verfügung. In Folge der seit bald einem Jahr zunehmenden Inflation und steigender Energiekosten werden die Pauschalen kontinuierlich nach oben korrigiert. Bleibt das Nettoeinkommen konstant, so wird zwangsläufig der Spielraum für den Erwerb von Wohneigentum geringer.
Red.: Das ist nachvollziehbar, aber vermutlich nicht das einzige Hindernis.
Matthias Russel: Selbstverständlich nicht. Die Nettoeinkommen der Haushalte folgen bei weitem nicht dem Anstieg der Baukosten. Die Mischung aus steigenden Rohstoff- und Energiepreisen, Fachkräftemangel, Störung von Lieferketten und Erhöhung der Standards bei der Bauausführung – ich erwähne hier nur exemplarisch die Fotovoltaikpflicht – treibt die Preise in für den Durchschnittshaushalt kaum mehr erreichbare Höhen, so dass selbst bei einer einfachen Ausstattung mittlerweile 4.500 Euro für den Quadratmeter die Regel sind. Zählt man die Erwerbskosten hinzu so landet man bei rund einer halben Million Euro für eine Hundert-Quadratmeter-Wohnung. Mittlerweile bieten Fertighaushersteller ihren Kunden Abfindungen an, wenn sie vom Erwerb eines preislich fixierten Objekts zurücktreten, weil sich seit der Auftragserteilung die Kosten so sehr verteuert haben, dass eine Realisierung mit einem betriebswirtschaftlichen Verlust verbunden wäre.
Red.: Erschwerend kommt nun die Zinswende hinzu. Eine erste Korrektur ist durch die Europäische Zentralbank bereits erfolgt, eine weitere für September in Aussicht gestellt. Auf welchem Niveau bewegen sich inzwischen die Zinsen für Baufinanzierungen?
Matthias Russel: Der genaue Zinssatz hängt selbstverständlich von einigen Faktoren wie Laufzeit oder Eigenkapitalquote ab, ich kann daher keine auf die zweite Nachkommastelle genauen Werte hier angeben. Insgesamt haben sich die Kreditzinsen seit ihrem Tiefpunkt bei deutlich unter einem Prozent in den Jahren 2019 bis 2020 auf mittlerweile rund drei Prozent verteuert, bei einer zwanzigjährigen Zinsfestschreibung bewegen wir uns in der Nähe von vier Prozent.
Red.: Die Zinswende betrifft ja nicht nur die privaten Haushalte, sondern auch unsere Kommune. Geld war bis vor kurzem noch fast zum Nulltarif zu haben, doch mittlerweile fallen die Finanzierungskosten gerade bei größeren Investitionsvorhaben wie einem Kindergarten- oder Schulneubau erheblich ins Gewicht. Wie hat sich das Zinsniveau für Städte und Gemeinden entwickelt?
Matthias Russel.: Selbstverständlich sind Bund, Länder und Gemeinden vom Zinsanstieg nicht ausgenommen. Je nach Bonität der Kommune liegen die Zinsen bei einer Laufzeit von fünf Jahren bei knapp unter zwei Prozent, bei zehnjähriger Festschreibung betragen sie derzeit 2,3 Prozent und bei 15 und zwanzig Jahren 2,6 Prozent, und alle Werte weisen derzeit eine weiter steigende Tendenz auf.
Red.: Die Gemeinden – und hier besonders unser Weingarten – drohen also in eine Art Zwangslage zu geraten. Während sich auf der einen Seite die Bau- und Finanzierungskosten bei den Investitionsvorhaben erhöhen steht möglicherweise das seit Jahrzehnten bewährte Instrument der Flächenveräußerung zur Sanierung des kommunalen Haushalts aufgrund rückläufiger Nachfrage nicht mehr in dem gewohnten Umfang zur Verfügung. Tatsächlich beruht ein großer Teil der Einnahmen in unserer mittelfristigen Planung auf dem Verkauf gemeindeeigener Bauflächen – als Beispiel seien hier nur das Gewerbegebiet Sandfeld und die Wohnbauflächen auf dem TSV-Gelände in der Waldbrücke oder entlang der Durlacher Straße gegenüber dem Autohaus Morrkopf genannt. Hinzu kommen die Planungen der Hoepfner BauInvest für die ehemalige Treppenfabrik Trautwein in der Höhefeldstraße. Kann der Markt dieses Angebot innerhalb relativ kurzer Zeit überhaupt aufnehmen?
Matthias Russel.: Es gibt ja das geflügelte Wort dass Prognosen generell schwierig sind, besonders natürlich dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Wenn uns jedoch schon führende Mitglieder der Bundesregierung auf eine drei- bis fünfjährige schwierige Zeit einstimmen fällt es mir schwer, Optimismus zu simulieren. Ganz persönlich würde ich daher einen Teil der geplanten Einnahmen aus Flächenverkauf mit einem Fragezeichen versehen und den Blick verstärkt auf die Ausgabenseite unseres kommunalen Haushalts richten.
Red.: Gibt es ein Schlusswort?
Matthias Russel: Ja klar, und das soll auch keinesfalls pessimistisch sein. Weingarten ist für mich eine absolut lebenswerte Gemeinde und selbstverständlich dazu in der Lage, ein paar weniger rosige Jahre unbeschadet zu überstehen. Ich habe die Hoffnung dass die gegenwärtige Situation hilft, unseren Blick auf das wirklich Wichtige, Notwendige und auch Machbare zu schärfen, es werden vielleicht ein paar Luftschlösser zu bröckeln beginnen, aber die Fundamente und Mauern halte ich für solide.
Red.: Ganz herzlichen Dank für die Bereitschaft zu diesem Gespräch!