Ein Blick zurück

Die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eine Zeit des Aufbruchs – um dies zu bestätigen muss man nur eine LP (=Langspielplatte) der Gitarrenlegende Jimi Hendrix in voller Lautstärke hören. Auch im Hinblick auf die Mobilität veränderte sich vieles. Nachdem bereits die fünfziger und noch mehr die sechziger Jahre einem großen Teil der Bevölkerung zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen und damit auch das Automobil massentauglich gemacht hatten, galt es nun, vorhandene Grenzen zu sprengen und der sich ausbreitenden Armada von Personenkraftwagen Raum zu schaffen. Es wurde planiert, verbreitert, beschleunigt und versiegelt, und was dem Fortschritt – oder dem, was man damals als solchen begriff – im Wege stand, wurde weggeräumt. Zunächst waren die Städte Vorreiter dieser Entwicklung unter dem Emblem der Moderne, doch wie so oft trottete das Land mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung treu und brav hinterher. So war es nicht verwunderlich, dass auch in Weingarten Ideen entstanden, die vermeintlich viel zu engen Verbindungsstraßen durchgängig zu machen. Dem Beispiel Jöhlingens folgend plante man nicht nur die Verdolung des Bachlaufs in der Bahnhofstraße, sondern darüber hinaus noch die Beseitigung der historischen Tullabrücke, um von Osten her kommend am heutigen Wasserrad am Kirchplatz auf eine hindernisfreie Trasse in Richtung Bahnhof und weiter nach Stutensee verschwenken zu können.

Was nach Beginn der Bauarbeiten erfolgte, war ein einzigartiges Desaster. Zwar kam die Verdolung des Walzbachs von der Eisenbahnlinie beginnend zunächst zügig voran, doch hatte man die Gesamtkosten des Vorhabens komplett unterschätzt. Über lange Jahre war die Bahnhofstraße eine bizarre Landschaft aus provisorischen Fahrspuren, in Beton gegossenen Fertigelementen für die Kanalisation des Bachlaufs, ungeordnet parkenden Fahrzeugen und willkürlich gelagertem Baumaterial. Weingarten war in der Region ein Beispiel für eine Gemeinde, in der nichts voranging. Dafür hatten wir immerhin das Winzerfest.

Aus heutiger Sicht jedoch war die festgefahrene Baustelle ein Glücksfall. In der unfreiwillig verordneten Atempause setzte zeitgleich das Nachdenken ein. Es konnten sich Kräfte formieren, die den Sinn des Gesamtvorhabens in Frage stellten und die Abwägung vornahmen, ob man wirklich einen in Jahrhunderten gewachsenen Ortskern mit seinen baulichen Besonderheiten in eine überdimensionierte asphaltierte Straßenkreuzung verwandeln soll. Personen wie Ruth Aich und Ernst Kühnle warfen letztlich auch ihren politischen Einfluss in die Waagschale, um eine Fortsetzung der Baumaßnahme über die sogenannte Hartmannsbrücke hinaus in Richtung der beiden Kirchen zu stoppen. Parallel dazu erfolgte die Gründung des Bürger- und Heimatvereins. Auch sein erklärtes Ziel war der Erhalt des verbliebenen Bachlaufs und der Tullabrücke. Die finale Abstimmung im Gemeinderat über die weitere Verdolung des Walzbachs war denkbar knapp: Mit zehn zu neun Stimmen votierte das Gremium für den Stopp der Verdolung an der Einmündung der Friedrich-Wilhelm- in die Bahnhofstraße und für den Erhalt des verbliebenen ortsbildprägenden offenen Bachlaufs.

Ist es nicht eigenartig? Heute sind wir stolz auf die aus Sandstein gefertigte Brücke am zentralen Punkt unseres Ortes. Der Walzbach bis zum Einlaufbauwerk an der Hartmannsbrücke ist „Location“ für Vereinsfeste, Kreativmärkte, für einen kleinen Espresso am Vormittag sowie für Begegnung und dörflichen Austausch, und es gibt sogar Stimmen, die sich für die Rückabwicklung der Walzbachverdolung und für eine Öffnung des Baches aussprechen. Ob wir dies allerdings jemals finanzieren können, sei dahingestellt.

Letztendlich haben wir es den Zögerern, Zauderern und Verhinderern zu verdanken, dass dies so ist. Wären wir der damaligen Aufbruchsstimmung erlegen, gäbe es keine Ortsmitte mehr, und Weingarten hätte ein zentrales Stück seiner Identität verloren. Vielleicht sollten wir daher auch heute den nachdenklichen Stimmen Gehör schenken, und nicht dem Zeitgeist folgend Natur, Landschaft, Artenvielfalt und Erholungswert unserer Gemarkung für eine Transformation opfern, deren Widersprüchlichkeit immer offener zu Tage tritt. Wieder einmal sind die lautstarken Modernisierer am Ruder, doch es könnte sein, dass uns nachfolgende Generationen einmal fragen: „Warum habt Ihr das getan?“

Nur mit einer knappen Mehrheit konnte Ende der siebziger Jahre der Abriss der Tullabrücke verhindert werden