Darstellung der Finanzsituation unserer Gemeinde im Rahmen der Einwohnerversammlung blendet Risiken aus
„Wir sind eine der am höchsten verschuldeten Kommunen im Landkreis. Dieser Umstand kommt uns bei der Gewährung von Fördergeldern und Zuschüssen zu Gute. Gleichzeitig haben wir in den vergangenen Jahren für viele Millionen Euro Grundstücke erworben, zum Beispiel im Baugebiet „Kirchberg-Mittelweg“. Diese können wir bei Bedarf veräußern und damit unsere Zukunftsinvestitionen finanzieren“.
Mit dieser Argumentationslinie verteidigte Bürgermeister Bänziger im Rahmen der Einwohnerversammlung am 28. April in der Walzbachhalle den derzeitigen haushaltspolitischen Kurs der Verwaltung und des Gemeinderats. Auf den ersten Blick erscheint diese Strategie klug und richtig, und tatsächlich hat sich unsere Gemeinde in den vergangenen Jahren zahlreichen über lange Dekaden verschleppten Aufgaben gestellt. Mit der Burgstraße und der Jöhlinger Straße wurden umfangreiche Sanierungsvorhaben entschlossen in Angriff genommen, die Ortsmitte präsentiert sich mit dem neu gestalteten Kirchplatz einladend und attraktiv für Besucher, und auch die unerwarteten Belastungen durch die Flüchtlings- und die Coronakrise hat Weingarten einigermaßen unbeschadet überstanden. Gleichwohl tun sich seit einiger Zeit zahlreiche Risiken auf, die die groß angelegten Zukunftspläne nicht nur gefährden, sondern darüber hinaus grundsätzlich in Frage stellen könnten.
Eine Inflation in der Größenordnung von über sieben Prozent sorgt nicht nur auf der einen Seite für eine relative Verringerung unserer Schulden, sondern führt auf der Ausgabenseite zu einer deutlichen Erhöhung des Sachaufwands und insbesondere zu einem fast explosionsartigen Anstieg sämtlicher Kostenprognosen für unsere dringendsten weiteren Investitionen. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies bei der Erweiterung der Turmbergschule als einer unserer anspruchsvollsten Zukunftsaufgabe: Rund sechzehn Millionen Euro hatte die Gemeinde in ihrem Investitionsprogramm für die Behebung der Raumnot und eine Modernisierung der Gemeinschaftsschule eingestellt. Diese an sich schon stattliche Zahl wurde im Rahmen einer vorsichtigen Kostenprognose durch ein Karlsruher Architekturbüro in den vergangenen Wochen von der Realität überholt – vorsichtige Schätzungen liegen nun bei rund vierzig Millionen Euro und damit beim Zweieinhalbfachen der ursprünglichen Größenordnung. Nachdenklich stimmt obendrein eine weitere Aussage der Planer: Die Kalkulation geht von den derzeit aktuellen Baupreisen aus. Verzögert sich das Projekt um weitere Jahre, so ist mit einem nochmals deutlichen Anstieg der Gesamtsumme zu rechnen.
Nicht thematisiert wurde im Gemeinderat ebenfalls der seit einigen Monaten zu beobachtende Anstieg der Kreditzinsen. Konnte sich, wie ebenfalls bei der Bürgerversammlung kurz angesprochen, die Gemeinde noch vor Jahresfrist zu einem Zinssatz nahe Null verschulden, so rückt mittlerweile eine Zwei vor dem Komma in greifbare Nähe. Die steigenden Zinsausgaben müssen regelmäßig erwirtschaftet werden, es ist gesetzlich verboten, Kredite über die Aufnahme weiterer Kredite zu bedienen. Investiert die Kommune somit nach Abzug aller Fördermittel theoretische 25 Millionen Euro in das Schulsanierungsvorhaben, so bedeutet dies eine jährliche Mehrbelastung von 500.000 Euro in einem Ergebnishaushalt, der bereits heute ein Defizit ausweist und allein durch Sondereinnahmen durch Verkaufserlöse über Wasser gehalten wird. Auch in den kommenden Jahren wird es schwierig sein, im laufenden Betrieb ein positives Ergebnis zu erwirtschaften. Die Abschreibung der Investition beträgt ebenfalls zwei Prozent und schlägt somit mit weiteren 500.000 Euro pro Jahr zu Buche.
Der klammheimliche Anstieg der Zinsen trifft nicht nur die öffentlichen Haushalte als besonders kreditwürdige Darlehensnehmer, sondern mit besonderer Härte die privaten Haushalte. Steigende Finanzierungskosten und galoppierende Baupreise schränken den Spielraum gerade für junge Familien beim Erwerb von Wohneigentum immer weiter ein. Bereits heute werden geplante und bereits genehmigte Wohnungsbauvorhaben teilweise nicht mehr realisiert, weil die damit verbundenen Risiken nicht mehr zu schultern sind. Insofern ist es fraglich, inwieweit die geplanten Einnahmen aus der Veräußerung von Baugrundstücken überhaupt realisierbar sind. Eine weitere Unsicherheit stellt darüber hinaus die seit mittlerweile zwölf Jahren projektierte Gewerbefläche im Gewann „Sandfeld“ dar. Hier führen in einem ohnehin wirtschaftlich ungünstigen Umfeld die mit der Erschließung verbundenen Hindernisse und Schwierigkeiten bei der Entwässerung des Geländes zu einem im Vergleich mit unseren Umlandgemeinden deutlich höheren Quadratmeterpreis. Erst in den kommenden Monaten wird sich zeigen, auf welche tatsächliche Nachfrage die rund sieben Hektar baureife Grundstücke für Gewerbe und Handwerk treffen werden.
Abschließend sei – ähnlich wie beim Länderfinanzausgleich – die grundsätzliche Frage gestellt, inwieweit es sich eine Volkswirtschaft erlauben kann, hoch verschuldete Kommunen überproportional zu fördern und damit gleichzeitig solides und verantwortungsvolles Wirtschaften anderer Gemeinden zu bestrafen. Mehr als deutlich hat die Bürgerversammlung am 28. April gezeigt, wie sehr sämtliche Gemeinden mittlerweile in Abhängigkeiten verstrickt sind und über Fördermittel und Zuschüsse fremdgesteuert und dirigiert werden. Von der in Artikel 28 unseres Grundgesetzes garantierten Selbstverwaltung der Kommunen sind mittlerweile nur noch traurige Restbestände übrig – vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, dass von rund 6.500 Weingartener Wahlberechtigten nur rund sechzig Bürgerinnen und Bürger abends den Weg in die Walzbachhalle auf sich genommen haben. Übrigens: Im April 2022 betrug die Inflationsrate 7,4 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Noch vor einem Jahr hatte sie bei 2,0 % gelegen.