Der neue Tafelladen in der Bahnhofstraße – ein Grund zum Jubeln?

Im Vergleich zu anderen Vorhaben, die sich in unserer Gemeinde über Jahre oder teils Jahrzehnte hinziehen – als Beispiel sei hier nur das 2010 (!) be-schlossene, aber immer noch nicht er-schlossene Gewerbegebiet im Sandfeld genannt – ging es mit dem Tafelladen in Weingarten in beispiellosem Tempo voran. Kaum war der von der SPD-Fraktion formulierte Antrag am 12. Dezember 2022 eingereicht, so wurde er auch schon in der Januarsitzung des Gemeinderats mit positiven Signalen in den Verwaltungsausschuss verwiesen und bereits am 13. März 2023 endgültig verabschiedet. Selbstverständlich waren im Vorfeld Gespräche zwischen den Kirchen und einzelnen Gemeinderatsfraktionen sowie der Verwaltung geführt und eine Teilfläche in dem Gebrauchtartikelladen „Dies und Das“ in der Bahnhofstraße für durchaus geeignet befunden worden. Der abschließende Entscheid des Gemeinderates war somit nur noch eine reine Formsache, zumal ja schon Tage vor der Beschlussfassung das Abstimmungsergebnis in der „Weingartener Woche“ veröffentlicht war. Auch aus Sicht der FDP-Fraktion ist die nun vor ihrer Verwirklichung stehende Einrichtung eine unterstützungswerte Sache. Tatsächlich finden derzeit Wohlstandsverluste in einer seit den Nachkriegsjahren noch nie dagewesenen Dimension statt, und selbstverständlich ist es auch der mehr als jede andere Fraktion noch mit der Landwirtschaft und dem Weinbau verbundenen FDP-Fraktion ein wichtiges Anliegen, dass hochwertige Lebensmittel nicht kurz vor ihrem Ablaufdatum vernichtet werden, sondern ihren Weg auf die Tische derer finden, die mehr und mehr an den unteren Rand der Gesellschaft abgedrängt werden.

Dass genau die Frage nicht diskutiert wurde, warum wir in einem Land, das sich selbst als reich bezeichnet, nicht mehr nur in Großstädten, sondern auch in der Fläche Einrichtungen wie die Tafelläden brauchen und diese kaum den zunehmenden Bedarf abdecken können, ist erstaunlich und bedrückend zugleich. Für die FDP-Fraktion ist daher die bevorstehende Eröffnung des Tafelladens in der Bahnhofstraße kein Grund zum Jubeln, sondern ein Anlass zum Nachdenken darüber, was in unserem Land seit mittlerweile Jahrzehnten gehörig schiefläuft. Man könnte dabei anfangen bei der im Jahre 2009 beschlossenen Abwrackprämie für noch absolut fahrtüchtige Automobile, die ein Loch von fünf Milliarden in den Bundeshaushalt gerissen hat. Fortsetzen ließe sich die Liste mit der Frage, warum die Anschaffung tonnenschwerer und 80.000 € teurer Elektro-SUVs mit 6000 € pro Einheit aus dem Bundeshaushalt bezuschusst wurde, während gleichzeitig die Krankenpflegerin in Karlsruhe darauf hofft, ihren sechzehn Jahre alten Renault Twingo nochmal durch den TÜV bringen zu können. Vielleicht sollte man mal darüber sprechen, welche Unsummen bislang in Form einer EEG-Umlage von den Bewohnern kleiner städtischer Mietwohnungen zu den Eigentümern gehobener Wohnimmobilien in Ortsrandlage mit großzügig dimensionierter PV-Anlage transferiert wurden. Diskutieren könnte man auch die Frage, warum eine Transaktionssteuer zur Bändigung einer wild gewordenen globalen Finanzindustrie völlig als Thema in der Hintergrund geraten ist, und mit den Milliarden, die unserem Staat durch den Cum-Ex-Skandal an Einnahmen entgangen sind, ließe sich die Angebotspalette sämtlicher Tafelläden dieser Republik um frische Tiefseegarnelen, Dry-aged Beef und Champagner für alle erweitern. Ja, es läuft etwas gehörig schief in unserem Land, und somit ist die neue Einrichtung in der Bahnhofstraße 56 nicht nur ein Kurieren von Symptomen, sondern darüber hinaus sogar Selbstanklage einer Partei, die mit einer kleinen vierjährigen Erholungspause sage und schreibe seit zweieinhalb Jahrzehnten als Regierungspartei die Politik maßgeblich mitbestimmt.