Klimafreundliches Knöllchen

Liebe Leserinnen und Leser,

die nun folgende Einleitung soll weder Lamento noch Ausdruck von Selbstmitleid oder Eigenlob sein:

Die Durchsicht der Vorlagen für eine Gemeinderatssitzung ist generell eher eine mit der Ausübung des Ehrenamtes verbundene Pflichtübung als ein abwechslungsreiches Freizeitvergnügen. Oftmals sind die Texte sperrig und voller Abkürzungen, die Sachverhalte trocken oder kompliziert, und wenn auch seit der Einführung eines Ratsinformationssystems keine häusliche Schrankwand mehr für das Aufbewahren von Sitzungsordnern geopfert werden muss und eine Suchfunktion den Zugriff auf Informationen erleichtert drängt sich doch gelegentlich der Eindruck auf, dass durch die Digitalisierung die Inhalte zwar komprimiert werden, gleichzeitig jedoch enorm an Umfang zunehmen. Mit rund hundertfünfzig Seiten ist ein durchschnittlicher vorhabenbezogener Bebauungsplan noch leichte Kost im Vergleich zum vierhundertzwanzigseitigen Rechenschaftsbericht für das Jahr 2018 oder den fünfhundertdreißig Seiten umfassenden Nachtragshaushalt für 2020.

Weil diese Überfülle an Informationen offenbar nicht ausreicht werden die Mitglieder des Gemeinderats seit einigen Wochen mit einer weiteren Feinheit beglückt: Unter dem Motto „Verwaltungsvereinfachung ist etwas für Schwache“ wird neuerdings auf Antrag einer von der Woge des Zeitgeists besonders getragenen Fraktion in vorauseilendem Gehorsam fast jede Sitzungsvorlage um eine Stellungnahme zu den hypothetischen Auswirkungen der Entscheidung auf den Klimaschutz  ergänzt, ohne dass das Gremium dies jemals beschlossen oder auch nur diskutiert hätte. So erfahren die Gemeinderäte nun aus berufener Quelle, dass sich eine dreigeschossige Bebauung entlang der Ringstraße und am nordwestlichen Ende der Bahnhofstraße positiv auf das globale Klima auswirkt. Zu den klimatischen Folgen des Ende Februar beschlossenen Gewerbegebiets „Sandfeld“ konnte oder wollte man sich nicht explizit äußern. Dafür wissen die Gemeinderatsmitglieder und auch die interessierte Öffentlichkeit seit dem vergangenen Montag, dass sich die Installation von zwei stationären Geschwindigkeitsmesseinrichtungen in der Jöhlinger Straße einerseits vorteilhaft und andererseits wieder negativ auf die Durchschnittstemperatur unseres Erdballs auswirkt: Positiv deshalb, weil langsamerer Verkehr einen geringeren CO2-Ausstoß erzeugt, negativ hingegen dadurch, dass der Transport der Messeinrichtungen und der Monteure (oder schreibt man heute besser Montierenden?) von der Firma ERA GmbH & Co. KG aus Heilbronn bis zu uns nach Weingarten eine Anfahrt des ausführenden Unternehmens und dadurch eine CO2-Belastung generiert. Hin- und hergerissen zwischen Pro und Kontra entschied sich das Gremium dann doch mit großer Mehrheit für die Beauftragung des Heilbronner Unternehmens, ohne überhaupt irgendwelche Alternativen zum klimaschädlichen Transport von Mensch und Material per LKW, wie zum Beispiel den Einsatz von Lastenseglern und die Anreise des Montageteams mit öffentlichen Verkehrsmitteln geprüft zu haben. Konsequenterweise sollten die grauen Kästen mit reinem Ökostrom betrieben werden, damit sich Temposünder freuen, wenn sie in nicht allzu ferner Zukunft ein Schreiben mit folgendem Wortlaut in Händen halten:

Temposünder werden sich freuen, wenn sie in Zukunft folgendes Schreiben erhalten:

„Sehr geehrter Frau XXX,

  Sehr geehrter Herr YYY,

Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um xx Km/h

Beweismittel: Messung mit Lasergerät Leivtec XV3

Besonderer Hinweis: Das beigefügte Foto wurde klimafreundlich erstellt.“