Stoßdämpfer

Väter sind eigenartige Menschen – zumindest aus der Sicht ihrer Töchter und Söhne. Sie haben verschrobene Ansichten, erzählen von einer Vergangenheit, die niemanden mehr interessiert, essen und trinken ungenießbare Dinge und gehen Tätigkeiten nach, die einfach völlig aus der Zeit gefallen sind. Zudem haben sie seltsame Angewohnheiten. Bei meinem Vater war dies nicht anders. War man zum Beispiel mal in der Stadt zum Einkaufen und wollte die Rückfahrt nach Weingarten antreten, so drückte er vor dem Verstauen der Waren und dem Besteigen des Autos, einem alten Renault R8 , zunächst einmal kräftig auf das seitliche Heck des Fahrzeugs, um sodann an einem der vorderen Kotflügel das gleiche zu tun. Nach dem Sinn dieser Tätigkeit gefragt entgegnete er, dass er auf diese Weise die Stoßdämpfer überprüfe. Und damit sind wir schon beim Thema.

Auch wenn moderne Automobile heute überwiegend aus Assistenzsystemen, Elektronik und so elementaren Dingen wie automatisch schließenden Heckklappen oder Müdigkeitserkennung bestehen, so sind doch nach wie vor in jedem Fahrzeug noch einige traditionelle Komponenten verbaut. Ein Motor gleich welcher Antriebsart gehört dazu, auch Bremsen sind unverzichtbar, und selbstverständlich kommt auch der Kombination von Federung und Stoßdämpfern bei dem sich verschlechternden Zustand unserer Verkehrswege eine wachsende Bedeutung zu. Die Federung nimmt harte Stöße und Bodenunebenheiten auf, neigt jedoch für sich alleine zum Schwingen und Aufschaukeln. Erst die Verbindung mit den meist öl- und gasgefüllten kolbenartigen Stoßdämpfern sorgt für das heutzutage fast selbstverständliche Fahrgefühl. Auch in den Fahrwerken moderner Verkehrsflugzeuge sind die gewaltigen Stickstoffzylinder nicht wegzudenken. Ohne sie würden die Jets nach dem Aufsetzen vermutlich bis ans Ende der meist viertausend Meter langen Bahn weiterhüpfen. Keine besonders angenehme Vorstellung.

Während also einerseits Millionen und Abermillionen von Stoßdämpfern auf nahezu unsichtbare Weise unsere Reisen mit Bussen, Bahnen, Automobilen und Flugzeugen sicher und komfortabel machen verzichtet man in unserem gesellschaftlichen und politischen Betrieb zunehmend auf den Einsatz schwingungsreduzierender und mäßigender Elemente. Galt früher noch die Regel, vor einer richtungsweisenden Entscheidung eine Nacht darüber zu schlafen, so wird heutzutage eher aus der Hüfte geschossen. Jede Verlautbarung und Meinungsäußerung zieht innerhalb kürzester Zeit eine Empörungswelle nach sich. Die Dauererregung wird zur neuen Normalität, und wir stolpern wie benommen von einem Shitstorm zum nächsten. So gleichen wir mehr und mehr einem Maler, der verbissen einen Pinselstrich nach dem anderen auf die Leinwand aufträgt, ohne auch nur einen Moment zu pausieren und sein Werk in Ruhe aus einiger Entfernung zu betrachten.

Dieser permanente Ausnahmezustand hat auch unser kleines Weingarten schon längst fest im Griff. Wir beauftragen für teures Geld ein Ingenieurbüro mit der Untersuchung des Zustandes unserer kommunalen Straßen und Wege. Dieses erstellt einen fundierten Zeitplan für die anstehenden Sanierungen, doch ein paar Anrufe unzufriedener Zeitgenossen genügen, um von der empfohlenen Reihenfolge wieder abzuweichen. Wir definieren eine Mindestgehwegbreite in der Jöhlinger Straße, verbarrikadieren anschließend den sanierten Bürgersteig durch steinerne Poller, um diese ein paar Wochen später wieder zu entfernen. Wir verabschieden eine Haushalts- und Investitionsplanung und haben nur wenige Wochen später die festgeschriebenen Ziele um mehrere Millionen verfehlt. In den Rathausschubladen liegt ein Integriertes Städtebauliches Entwicklungskonzept. Es sollte einstmals Leitlinie und Arbeitsprogramm für die nähere Zukunft werden. Kostenpunkt: xx €, heute interessiert sich kein Mensch mehr dafür. Die Liste ließe sich nahezu beliebig fortschreiben, doch dann würde uns die Schwermut nicht mehr loslassen. Viel wichtiger wäre es, nach einem Ausweg aus diesem selbstgemachten Dilemma zu suchen. Hierbei kommt wieder der eingangs erwähnte Stoßdämpfer ins Spiel. Es muss uns gemeinsam gelingen, Schwingungen zu mäßigen, Stöße abzufedern und Aufschaukeln zu verhindern. Die hierzu geeigneten Instrumente heißen Besonnenheit, Verlässlichkeit, Konsequenz und ein realistischer Blick auf unsere eigenen Möglichkeiten. Tugenden also, die unsere Väter noch verinnerlicht hatten. Auch wenn diese uns möglicherweise noch so eigenartig erschienen.          

ehemalige Baustelle Jöhlingerstrasse