Nachtpost

„Münster“ – „Rostock“ – „Bremen“ – „Hamburg“ – nur schwach gedämpft durch die Cockpittür dringen die Kommandos der signalgelb gekleideten Lademannschaft in die Pilotenkanzel der Boeing 737. Turmhohe Lichtmasten werfen einen grellen Lichtschein auf das Vorfeld des Frankfurter Flughafens, in unregelmäßigen Abständen heulen die Dieselmotoren der schweren Ladefahrzeuge auf und die Maschine schaukelt unter der Last der neu ankommenden Sitzcontainer leicht hin und her. Es ist kurz nach ein Uhr nachts, und während im übrigen Deutschland die letzten Kneipenbesucher ihren Heimweg antreten herrschen am „Fraport“ Hektik und Hochbetrieb. Das System ist eng getaktet, perfekt eingespielt und nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Die Briefzustellung republikweit einen Tag nach dem Einwurf einer Sendung nach der Devise „E plus eins“ zu gewährleisten. Hierzu steuern zusätzlich zu den Nachtpostzügen der Deutschen Bahn zu nächtlicher Stunde umgerüstete Passagiermaschinen von den meisten deutschen Verkehrsflughäfen den Knotenpunkt Frankfurt an, und innerhalb von anderthalb Stunden werden die auf den durch spezielle Bezüge geschützten Passagiersitzen gestauten Kunststoffcontainer entladen, umgeschlagen und anschließend wieder auf die „Outbound-Flüge“ verfrachtet – eine logistische Meisterleistung.

Für die Crew gibt es Sandwiches – Salami oder Käse, Obst und Fertignahrung. Schwarzer Kaffee und eine Tütensuppe helfen gegen die aufkommende Müdigkeit, und trotzdem tut es gut, ein paar Minuten die Augen zu schließen, um Reserven für den Rest der Nacht zu tanken. Allmählich sinkt der Geräuschpegel, die Rufe werden weniger und wir haben Glück: Zehn Minuten vor der geplanten Abflugzeit bringt der Lademeister das Loadsheet. Wir schließen die Türen, hängen die Notrutschen ein, die Checkliste ist schon längst gelesen, doch auch die Kollegen haben nicht gebummelt und wir sind die Nummer Vier zum Anlassen der Triebwerke. Gerade noch pünktlich verlassen wir unsere Position. Die Rollzeit ist kurz. Fast im Minutentakt drehen die Maschinen vor uns auf die Bahn, nehmen Anlauf und heben ab.

Das Deutschland der neunziger Jahre liegt im Schlaf, kaum Verkehr auf den Autobahnen, Raststätten leuchten als helle Inseln in die Nacht. Frühmorgens um halb drei braucht man keine Luftstraßen abzufliegen, wir bekommen schon bald nach dem Einfahren der Landeklappen von der Flugsicherung eine Freigabe zum Funkfeuer Karlsruhe und einen geradlinigen Anflug auf den Flughafen Lahr. Fast vollflächig ist die Rheinebene besiedelt, Odenwald und Schwarzwald heben sich einigermaßen dunkel von dem Lichtermeer ab. Gerade einmal achtundzwanzig Minuten in der Luft und schon drehen wir von der Landebahn 21 auf den Rollweg zum Vorfeld – so bekommt man jedenfalls keine Überstunden zusammen.

Es klopft an der Tür, ich hänge die Notrutsche aus und öffne. Das gleiche Signalgelb wie in Frankfurt, die Jungs stürmen in die Kabine, schließlich will Deutschlands Südwesten pünktlich mit Post versorgt werden. Die Bodenstromversorgung ist angeschlossen, wir können die Hilfsturbine ausschalten. Ein Flughafenmitarbeiter bringt uns über die Rampe in einen spärlich möbilierten Ruheraum im Flughafengebäude, grelles Neonlicht, grauer Vinylboden, weiße Rauhfaser, zwei schmale mit Wolldecken überzogene Betten. In zwei Stunden werden wir die Boeing 737 nach Stuttgart überführen, vielleicht können wir bis dahin sogar ein paar Minuten schlafen. Ein kurzer Hüpfer über den Schwarzwald, dann beginnt für die D-ABED ein weiterer Arbeitstag im Passagierbetrieb auf der Kurzstrecke.

Und warum erzähle ich diese eher unspannende Geschichte? Weil mich die Erinnerung an meinen früheren Beruf nicht loslässt? Oder weil ich so gerne von alten Zeiten erzähle? Wahrhaftig nicht, sondern weil ich vor wenigen Tagen eine Postsendung aus dem Briefkasten in Empfang nahm. Datum des Schreibens: Der 18. Oktober. Datum der Zustellung: Der 27. Oktober. Ein örtlicher Brief brauchte über eine Woche, die Distanz vom Absender zum Empfänger betrug Luftlinie zweihundert Meter.

Es gibt einige Gradmesser für das wirtschaftliche Leistungsvermögen und die Funktionsfähigkeit eines Landes. Pünktliche Züge, zuverlässiger Briefverkehr, genügend Lehrkräfte an unseren Schulen, vielleicht auch eine regelmäßige Leerung der Altglascontainer…., man darf ja träumen. Vielleicht müssen in Zeiten des E-Mailverkehrs nicht mehr unbedingt zu nächtlicher Stunde umgerüstete Passagierjets durch den Luftraum der Republik eilen, doch sollten man die Ziele Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit nicht völlig aus den Augen verlieren. Immerhin erfolgt die Briefzustellung durch die Post heutzutage zwar selten und eher sporadisch, aber dafür wenigstens klimaneutral. Doch halt – soweit waren wir ja bereits vor über zweihundert Jahren.

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